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Heinz Sichrovsky im Gespräch mit Thomas Hampson

Wann hat man so etwas bei den Salzburger Festspielen zuletzt erlebt? Eine vielversprechend programmierte Saison, gut ausbalanciert zwischen Kassengängigkeit und Avantgarde – doch das Interesse konzentriert sich seit Jahresfrist auf eine Wiederaufnahme.

Mit “Don Giovanni” in der richtungweisenden Konstellation Nikolaus Harnoncourt (musikalische Leitung) und Martin Kusej (Regie) gewann Peter Ruzicka 2002 seinen ersten Sommer in der riskanten Position des Mortier-Nachfolgers. Doch alle Beteiligten waren sich darüber einig, “work in progress” nach Bayreuther Modell geleistet zu haben. Bis zur Wiederaufnahme im Sommer 2003 sei noch viel zu tun, versicherten die Protagonisten in einer Situation, in der sich andere von Herzen zufrieden zur Ruhe begeben hätten.

Unrast und Misstrauen gegenüber Erreichtem kennzeichnen im besonderen den Bariton Thomas Hampson, seit kurzem 48 und nach Kulturmenschen-Konsens die amtierende Nummer eins im Fach des lyrisch-dramatischen Baritons. Zuletzt absolvierte er fünf neue Produktionen in acht Monaten, unter ihnen die Uraufführung von Friedrich Cerhas “Der Riese vom Steinfeld” und Rollendebüts als Verdis Simone Boccanegra und Mandryka in Richard Strauss’ “Arabella”: ein enormes Pensum nicht nur für einen Künstler, der es sich längst in seinem Repertoire hätte bequem machen können. Den Don Giovanni brachte er, einen Monat vor der Salzburger Wiederaufnahme, auch unter Ozawa an der Wiener Staatsoper heraus.

Hampson ist ein reizvolles Paradoxon in sich: Von Statur, Ausstrahlung, Popularität und Damenwirksamkeit könnte er sich getrost ins Getümmel halbseidener Gewinnler der Klassik-Krise werfen. Doch statt in Stadien und auf Tonträgern Crossover-Kretinismus zu treiben, gründete er kürzlich eine Stiftung zur Erforschung des kulturellen Erbes und hat sich in der Fischer-Dieskau-Nachfolge als führender Liedsänger seiner Generation etabliert. Den Status eines Intellektsängers erster Ordnung verbindet er zur Verwirrung vieler mit oft und gern erklärter Skepsis gegen das Regietheater. Hampson hat sich aus seiner amerikanischen Herkunft – er wuchs in einer bescheiden situierten Familie im Staat Washington auf – nie verabschiedet und ist doch ein prototypischer Österreicher, weil hier verbunden, verwurzelt und aus Überzeugung ansässig.

In Salzburg ist er heuer präsent wie nur wenige:

Mit der “Don Giovanni”-Wiederaufnahme am 14. August ,
mit dem Liederabend “Hugo Wolf und seine Zeit” am 1. August,
mit dem “Hugo-Wolf-Marathon” am 8. August,
mit dem Brahms-Requiem, dirigiert vom in vielem vorbildlichen Fischer-Dieskau, am 17. August.

Der Salzburger “Don Giovanni’ ist für Sie im Vorjahr durchaus unter Schmerzen zustande gekommen. Es war keine einfache Arbeit, der Regisseur Martin Kusej ist Wege gegangen, denen Sie als Verteter der Werktreue nicht bedingungslos gefolgt sind.

Thomas Hampson: Unter Schmerzen , naja .. sagen wir es lieber so: Ich war mit einigem nicht glücklich, und das wurde mir als Kritik an Kusej und den Festspielen ausgelegt, weil viele nicht bedenken, dass es auch so etwas wie Selbstkritik gibt. Ich war auch mit mir selbst nicht zufrieden! Ich bin völlig überzeugt, dass man mit einer Arbeit nie am Ende angelangt ist, sondern eigentlich immer am Anfang steht. Deshalb ist heuer ein in vielem neuer “Don Giovanni’ zu sehen.

Wie deuten Sie nun diese mythische Gestalt? Mit den mancherorts angewandten erotischen Superlativen wird man ja wohl weder Ihnen noch Don Giovanni gerecht.

Thomas Hampson: Bei diesem Werk geht es natürlich auch um Äußerlichkeiten. Wie ist man gekleidet und wie benimmt man sich. Die zentrale Frage ist aber eine andere: was ist für die Gestalt Don Giovanni ein Tabu? Was würde diese nie sagen, denken und tun? Don Giovanni erschüttert uns, weil er selbst scheinbar keine Tabus hat und vor nichts zurückscheut. Jene die Tabus haben bringt er hingegen ständig in qualvolle, in unerträgliche Situationen. Er provoziert die Männergesellschaft durch die schamlose Tollkühnheit, mit der er sich Frauen nähert. Sein Leben ist eine unersättliche Suche nach Sinnlichkeit. Das aber kommt aus einem psychologischen Loch in seiner Seele: Er achtet weder Natur noch Gott. Er versucht sein Leben auszusaugen bis zum letzten Tropfen, und nimmt in Kauf, dass dabei andere vernichtet werden. Alle seine Siege beruhen auf den Niederlagen anderer. Vermutlich bekämpft er einen ungeheuren Minderwertigkeitskomplex mit dem Wahn, sein eigener Gott zu sein. Trotzdem kann man ihn nicht als Atheisten bezeichnen, denn er hat eine panische Angst vor Gott. Was er aber am meisten fürchtet, ist der Tod. Und dem begegnet er schon in den ersten fünf Minuten des Stückes: Er tötet jemanden und hat damit sein eigenes Ende eingeleitet. Ob das nun Unfall oder Absicht ist, tut nichts zur Sache und ist bei Mozart nicht ganz eindeutig. Wir haben es in Salzburg als offensichtlichen Mord gedeutet, und im anschließenden Rezitativ ist Don Giovanni starr vor Angst. “Wer ist nun tot’, fragt Leporello, “du oder der Alte?’ Diese Frage soll lustig sein, aber das hängende Gis im Rezitativ kündigt Giovanni schon den eigenen Tod an. Jede böse Tat, die wir begehen führt ja letztendlich nur dazu, dass ein Stück unserer eigenen Seele getötet wird. Jede Tat, die Don Giovanni setzt, ist folgedessen eine Höllenfahrt in sich.

Was ist dann aber sein eigentlicher Tod? In Salzburg ersticht ihn sein Diener Leporello. Das wurde schwer beanstandet.

Thomas Hampson: Er ist ja schon tot. Deshalb ist es nicht wichtig, ob ihn ein Blitz vom Himmel erschlägt, ob ihn der Komtur zur Hölle schleift, ob er mit einem Herzinfarkt zusammenbricht. Bei uns erweist ihm sein bester Kumpel die letzte Gnade, ihn aus der elenden Existenz eines lebenden Toten zu erlösen. Da war ich mit Martin Kusej absolut einverstanden. An einem ‘Casanova-Typ’ als Don Giovanni bin ich nicht interessiert. Aber etwas anderes ist uns im ersten Jahr nicht gelungen: Momente des Humors sind verloren gegangen. Der tiefe Antagonismus zwischen Don Giovanni und seiner verlassenen Ehefrau Donna Elvira hat manchmal etwas sehr Komisches. Auch, dass sie ihm als Einzige gewachsen ist und deshalb mit ihm auf diese ironische Ebene gelangen kann. Die beiden sprechen in den Rezitativen dieselbe Sprache. Ansonsten hat er nur noch einen einzigen Gegenspieler, vor dem er auch entsprechenden’ Spundus’ hat: Das ist der Bauernbursch Masetto, dem er die Braut ausgespannt hat, und der alles verkörpert, was Giovanni nicht ist: ein ehrliches Mannsbild, das von der Wahrheit ausgeht und Giovannis böse Seele sofort durchschaut. All das hat Martin Kusej hervorragend gelöst.

Aber ..? Sie hatten doch Vorbehalte gegen vieles in der Inszenierung.

Thomas Hampson: Wenn zum Beispiel in den Kostümen keine sozialen Unterschiede erkennbar sind und alle wie vom Shopping im Designerladen kommen, stimmt der Kontext nicht mehr. Mozart war der größte Demokrat, den es je gegeben hat, aber das können wir nur verstehen, wenn uns die Klassengesellschaft seiner Zeit vor Augen geführt wird. Deshalb soll es im zweiten “Giovanni’-Sommer zum Teil neue Kostüme geben.

Lehnen Sie Aktualisierungen in der Regie grundsätzlich ab?

Thomas Hampson: Wer sagt, dass Mozart jedes Jahr neu erfunden werden muss? Er selbst war der größte Dramaturg der Operngeschichte, die Vollkommenheit in Person, vor der wir nur niederknien können. Ihm braucht man eigentlich nichts hinzuzufügen, und wenn es uns zu langweilig ist, die Vollkommenheit noch einmal zu sehen, weil wir sie schon zu kennen glauben – dann lassen wir es doch lieber! Mozart hat überhaupt keine Verantwortung, sein Werk vor dem 21. Jahrhundert zu rechtfertigen. Die Verantwortung ist ausschließlich auf unserer Seite. Das ist das Credo, mit dem ich alle meine Aufgaben angehe.

Was sagen Sie zu Christoph Marthalers skandalumtobter “Figaro’-Regie anno 2001, im letzten Jahr der Ära Mortier?

Thomas Hampson: Da fand ich viel Faszinierendes, auch klug Erdachtes. Aber wenn sich den ganzen Abend lang nichts entwickeln kann, weil sich alles zwischen einer Toilette und einem Brautmodengschäft in der Vorstadt abspielt, stimmt etwas nicht. In dieser Produktion haben Dirigent und Regisseur versucht, “Figaro’ als Grundlage für eine neue Oper zu verwenden. Meine erste Reaktion war: Schade, dass sie nicht den richtigen Komponisten gehabt hatten.

Würden Sie sich nun als Traditionalisten bezeichnen?

Thomas Hampson: Ich bin ein sehr avantgardefreudiger Mensch, singe ständig Uraufführungen im Opern- und Konzertrepertoire, bin ständig neugierig auf Neues und verstehe überhaupt nicht, dass nicht jedes Haus, das es sich leisten kann, mindestens alle zwei Jahre eine Uraufführung in Auftrag gibt.

Ich bin aber der Meinung, dass wir uns zuallererst mit angemessener Demut mit dem Libretto und der Partitur auseinandersetzen müssen. Da ist es mir ganz unwichtig, wenn ich deshalb als traditionalistisch bezeichnet werde.

Gab es denn auch ein uneingeschränkt positives Beispiel?

Thomas Hampson: Ja. Ich habe in diesem Jahr an der Wiener Staatsoper erstmals “Simone Boccanegra’ von Verdi gesungen. Peter Stein hat das wunderbar umgesetzt, weil er einfach das Stück und die Musik inszeniert hat. Er hat Simon Boccanegra als Friedenspolitiker im Genua der Renaissance dargestellt und damit eine wunderbare Verbindung zu Verdi und dessen musikalischer Sprache gefunden. Wenn wir ignorieren, dass diese Sprache uns ständig vom Meer erzählt, von seinem Geruch, seiner Kühle, zerstören wir das Werk. Das ist ein gefährlicher Irrweg, der die Gattung Oper bedroht.

Andererseits gibt es die Theorie, man müsse die Oper populärer und verständlicher machen.

Thomas Hampson: Unsere Energie soll sich ausschließlich darin erschöpfen, den Menschen unsere Kunstform näher zu bringen. Ich bin ein großer Gegner der Nievelierung auf der Bühne. So etwas habe ich mir nie gefallen lassen, obwohl es z. B. im “Figaro’ immer wieder versucht wird. Nicht einmal im “Barbier von Sevilla’ habe ich das akzeptiert – das ist eine feine musikalische Satire, kein Schwank zum Schenkelklopfen. Ich stehe auch nicht dafür zur Verfügung, um jeden Preis ein neues Publikum aufzubauen oder mehr Karten zu verkaufen oder Leuten, die keine Ahnung haben, durch Abschaffung des Niveaus den Zugang zu erleichtern. Besser wäre es, wie Harnoncourt immer sagt, die Empfindlichkeit des Publikums zu schärfen. Das Gespür für die Grammatik der Tonarten ist zum Beispiel fast abhanden gekommen, weil wir eine totale Bildergesellschaft geworden sind. Dem Publikum die Grammatik der musikalischen Sprache, der Rhythmen und Skalen zurückzugeben, ist eines meiner wichtigsten Ziele. Nikolaus Harnoncourt ist darin unschlagbar.

Das heißt, Sie sind wählerisch im Akzeptieren von Angeboten.

Thomas Hampson: Ich bin immer sehr wählerisch gewesen. Vor allem wegen meiner lyrischen Stimme und auch um die Balance zwischen Konzert- und Opernleben zu halten. Heute genieße ich selbstverständlich das Privileg selbst zu entscheiden, was ich singe und was nicht. Dafür übernehme ich dann aber auch die Verantwortung. Schließlich ist das Leben eines Künstlers nicht einfach nur ein ‘Job’.

Wie wichtig ist für Sie die Arbeit mit einem Dirigenten? “Don Giovanni’ mit Harnoncourt soll ja keineswegs friktionsfrei verlaufen sein.

Thomas Hampson: Große Dirigenten schaffen es immer wieder, dass man die Noten liest, als sähe man sie zum ersten Mal. Man wollte mir seit der “Giovanni’-Premiere immer wieder einreden, dass ich mit Nikolaus Harnoncourt nicht einverstanden wäre. Das ist ein Denkfehler! Mit großen Dirigenten muss man gar nicht einverstanden sein. Darum ist es mir nie gegangen! Es geht um den Dialog, die gemeinsame Suche nach der Wahrheit und deren Interpretation. Gemeinsam Musik als Sprache erkennbar zu machen, das ist es, was mich begeistert. Deshalb fasziniert mich auch die Welt des Liedes so. Es geht um die unterschiedlichen psychologischen Aspekte der Herkunft dieser Sprache und um ihre Zusammenhänge – das kann Mozart ebenso wie Sting oder Bruce Springsteen sein. Dieses Forschen bestimmt mein ganzes musikalisches Leben: mit wem ich musiziere, für welche Rollen und Lieder ich mich entscheide.

Harnoncourt gilt doch als große Autorität mit sehr dezidierten Vorstellungen. Gibt es da überhaupt Möglichkeiten des Widerspruchs?

Thomas Hampson: Gerade für ihn ist jeder Künstler ein ebenbürtiger Gesprächspartner. Wenn er erkennt, dass ein Sänger nicht seiner Meinung ist, ist er der Letzte, der sich als höhere Macht darstellt und den Sänger zu seiner Auffassung zwingt. Er möchte, dass man seine Auffassung versteht. Etwas, dass die wirklich großen Dirigenten übrigens fast alle gemeinsam haben.

Sie haben sich kürzlich beklagt, dass Ihnen die Salzburger Festspiele bis zum vorläufigen Ende der Ära Ruzicka im Jahr 2006 keine adäquaten Opernrollen anbieten.

Thomas Hampson: Beklagt ist zu hart. Jeder weiß, dass ich im Sommer ein leidenschaftlicher Salzburger bin. Ich liebe dieses Festival, und ich stand und stehe jedem Führungsteam gern zur Verfügung. Was ich ein wenig bedaure und vermisse sind die intensiven Momente, die ich während der vergangenen Jahre auch bei der Planung miterleben konnte. Es ist natürlich klar, dass sich das Konzept der Festspiele durch das neue Führungsteam verändert hat und neue Ideen verfolgt werden. Das heißt nicht, dass mir von den Salzburger Festspielen nicht verschiedenes angeboten worden wäre, aber es ist nicht dieselbe Gesprächsbasis wie früher. Ich hätte zum Beispiel gern die in der Ära Mortier/Landesmann begonnene Reihe mit Gedichten amerikanischer Autoren, vertont von europäischen Komponisten, fortgesetzt. Als Amerikaner leide ich darunter, dass das Amerika das vor langer Zeit als europäisches Idealbild der Gedankenfreiheit und Zukunftshoffnung galt -heute als bloßes Symbol der Weltmacht gesehen wird.

Jetzt fallen aber zuerst Entscheidungen über Stücke, und dann werden Sänger dafür gesucht. Wenn das nicht mein Repertoire ist, habe ich eben Pech gehabt. Ich verlange nicht, dass man sich einzig und allein nach mir richtet, nur weil ich vielleicht populär bin und Publikum bringe, würde mir aber wünschen, dass man mich mehr in den künstlerischen Prozess einbindet. So wie es derzeit aussieht, wird es in Salzburg während der nächsten Jahre eine geringere Präsenz von Thomas Hampson geben. Aber wer weiß?

Sie verbringen einen großen Teil des Jahres in Österreich. Fühlen Sie sich als Österreicher oder Amerikaner? Und wie empfinden Sie die neue europäische Amerikafeindlichkeit?

Thomas Hampson: Ich bin beides, und es schmerzt auf beiden Seiten. Wenn ich in Amerika bin, verbringe ich viel Zeit damit, den Menschen näher zu bringen, was in Europa passiert. In Europa wiederum fühle ich mich verpflichtet, zu erklären, dass ich nur werden konnte, was ich bin, weil ich Amerikaner bin. Ich komme aus sehr bescheidenen Verhältnissen, aber seine Ziele kann man in Amerika vielleicht eher erreichen als anderswo. Auch meine Gefühle pendeln. Einerseits sind mir manche europäische Ansichten zu spontan und emotionell. Auf der anderen Seite aber sympathisiere ich mit gerade diesen emotionellen Ansichten.

Sie haben jetzt eine Stiftung gegründet, die sich der Forschung widmet. Was darf man darunter verstehen?

Thomas Hampson: Die größte Herausforderung für einen verantwortungsvollen Künstlers ist es, jene Bildungslücken zu füllen, die durch das herrschende Schulsystem entstehen Ich finde es wichtig, den heute Zwanzig- oder Dreißigjährigen die schon erwähnte Sprache der Musik, deren Grammatik wieder näherzubringen, Wer kennt heute noch die Bilder und Metaphern der Romantik? Wer weiß noch, dass die Nachtigall in Schumanns schönsten Liebesliedern nicht die Liebe sondern den Tod, die Sehnsucht nach Erlösung symbolisiert? Ohne Heinrich Heine gäbe es keinen Sigmund Freud. Ein großer Fehler wurde in den Schulen schon vor 100 Jahren begangen, als man die Mythologie als Hauptfach abgeschafft hat. Ausgerechnet in der kreativsten Zeit dieses Landes an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Gustav Mahler, Schnitzler, der Jugendstil hier gewirkt haben, hat man diese unheilvollen Entscheidungen getroffen. Heute geniert man sich schon fast für seine Phantasie, weil man dafür womöglich ausgelacht wird. Wir werden durch eine Entertainment-Industrie gehetzt, die keinen Platz hat für Metapher und die der Seele die Blutzufuhr abschneidet. Kunst, ganz gleich, ob Gesang, Literatur oder Bildhauerei, ist doch das Tagebuch des Daseins: der Beweis, dass wir da waren und noch für etwas anderes gelebt haben als für die Geldvermehrung und die Freizeitgesellschaft. Das reicht auch an die Fragen der Religion heran, wobei es vollkommen gleichgültig ist, ob das Gotteshaus eine Moschee oder ein Tempel ist oder in den Wolken steht.

Für unsere Stiftung suchen wir nun gleichgesinnte Leute, die sich mit diesen Fragen und Problemen auseinandersetzen. Wenn Sie “song’ rückwärts lesen, kommt “gnos’ heraus, und griechisch “gnosis’ heißt “Erkenntnis’. Die Stiftung soll eine Art Versuchslabor der Erkenntnis sein. Konkret möchten wir verschwundenes Wissen wieder neu vermitteln. Forschungsprojekte, DVDs, Fernsehdokumentationen und eine Website sollen dabei als Kommunikationsplattformen alle Bereiche miteinander vernetzen.

Das Ganze übersteigt meine finanziellen Möglichkeiten. Ich habe jahrelang aus eigener Tasche z.B. Mahler-Forschungsprojekte unterstützt, aber mittlerweile haben meine Projekte eine Dimension angenommen, die zusätzliche Untersützung erforderlich macht.

Die Stiftung ist wohl auch als Mittel gegen die Klassik-Krise gedacht. In Deutschland brechen die Theater zusammen, die Schallplattenindustrie ist am Ende. Andererseits hat die Wiener Staatsoper 95 Prozent Auslastung und die Salzburger Festspiele sind überbucht. Wie geht das zusammen?

Thomas Hampson: Wien ist Wien und immer noch eine der lebendigsten Musikstädte, und Österreich im allgemeinen hat einen hohen Lebensstandard. Es geht uns hier wesentlich besser,als wir manchmal behaupten. Und selbst der angespannte politische Dialog, der derzeit herrscht, ist wichtig, weil nötige Maßnahmen gesetzt werden müssen. Wir stehen weltweit vor wichtigen Entscheidungen zur Reformierung unseres Sozialsystems. Aber als Folge sind wir in einer vollkommen wirtschafts- und konsumdiktierten Gesellschaft angelangt. Alles wird nur noch durch seine Berechenbarkeit definiert, der Dialog kommt abhanden, geschlossene Meinung steht gegen geschlossene Meinung, und das reicht vom ehelichen Umgang bis zum Dialog zwischen Gewerkschaft und Unternehmern. Machterhalt und die Bemühung, das Gesicht nicht zu verlieren, sind alles, was zählt. All das spiegelt sich, so wie immer, in der Kunst. Und so ist die Klassik-Krise weniger eine Gesellschaftskrise als eine Krise der Ausbildung. Wenn Kinder durch eine ganze Schulausbildung kommen können und trotzdem zur Musik, zur Sprache, zur bildenden Kunst keinerlei Bezug entwickeln, ist das eine Klassik-Krise. Wenn sie nie lernen, dass ein Schriftsteller seine Bücher nicht vor allem verfasst, um möglichst viele davon zu verkaufen, sondern dass er in langen und komplizierten Gedankenprozessen erforscht, woher wir kommen, weil wir sonst ja auch keine Ahnung haben, wohin wir gehen das ist eine Klassik-Krise.